Grundlagentext Empowerment (Einführung)
Gliederung:
- Definition
- Normative Rahmung: Menschenbild und Wertebasis
- „Sharing Power": Der sensible Umgang mit der Expertenmacht
- Evaluation
- Literatur
Definition
„Neue Stärken entdecken“, „Ressourcen aktivieren“, „personale und soziale Kompetenzen (weiter-)entwickeln“ – Stichworte wie diese verweisen auf ein Handlungskonzept, das in den letzten Jahren zum Fixstern am Himmel der psychosozialen Arbeit avanciert ist: das Empowerment-Konzept. Ursprünglich eine Importware aus dem Bereich der Bürgerrechtsbewegung, der Sozialen Bewegungen und der gemeindebezogenen psychosozialen Arbeit der USA ist dieses Konzept heute konstitutives Element der professionellen Identität der Sozialen Arbeit. Der Begriff Empowerment (wörtlich übersetzt: „Selbstbefähigung“, „Selbstbemächtigung“, „Stärkung von Eigenmacht und Autonomie“) bezeichnet biografische Prozesse, in denen Menschen ein Stück mehr Autonomie und Lebenssouveränität für sich gewinnen. Empowerment beschreibt Mut machende Prozesse der Selbstbemächtigung, in denen Menschen in Situationen des Mangels, der Benachteiligung oder der gesellschaftlichen Ausgrenzung beginnen, ihre Angelegenheiten selbst in die Hand zu nehmen, in denen sie sich ihrer Fähigkeiten bewusst werden, eigene Kräfte entwickeln und ihre Ressourcen zu einer selbstbestimmten Lebensführung nutzen lernen. Empowerment – auf eine kurze Formel gebracht – zielt auf die (Wieder-)Herstellung von Selbstbestimmung über die Umstände des eigenen Lebens. In der Literatur werden zwei Varianten von Empowerment unterschieden:
Politisches Empowerment: Empowerment – mit politischem Vorzeichen buchstabiert - thematisiert die strukturell ungleiche Verteilung von politischer Macht und Einflussnahme. E. bezeichnet hier einen konflikthaften Prozess der Umverteilung von politischer Macht, in dessen Verlauf Menschen oder Gruppen von Menschen aus einer Position relativer Machtunterlegenheit austreten und sich ein Mehr an demokratischem Partizipationsvermögen und politischer Entscheidungsmacht aneignen. Dieser politischen Definition eignet das Bild eines Aufbruches: Menschen verlassen das Gehäuse der Abhängigkeit und der Bevormundung. Sie befreien sich in eigener Kraftaus einer Position der Ohnmacht und Abhängigkeit, besetzen die Bühne der politischen Öffentlichkeit und erstreiten in kollektiver Selbstorganisation ein Mehr an Selbstbestimmung, Autonomie und Lebensregie. Empowerment bezeichnet damit einen selbstinitiierten kollektiven Prozess der Herstellung von politischer Lebenssouveränität. Diese politische Begrifflichkeit findet sich vor allem im Kontext von Sozialen Bewegungen, Selbsthilfeorganisationen und zivilgesellschaftlichen Projekten.
Psychologisches Empowerment: Empowerment im psychologischen Wortsinn beschreibt einen Prozess, in dem Menschen auch in Zeiten der Belastung die psychische Kraft gewinnen, ein gelingendes Alltagsmanagement zu realisieren. Diese lebensweltbezogene Definition stellt eine gelingende Mikropolitik des Alltags in ihren Mittelpunkt und thematisiert das Vermögen von Individuen, in der Textur ihrer Alltagsbeziehungen eine autonome Lebensform in Selbstorganisation zu leben. Verwendung findet dieser alltagsbezogene Begriff vor allem in der Rezeption des Empowerment-Konzeptes durch Soziale Arbeit und psychosoziale Praxis (zur Begrifflichkeit und Geschichte vgl. Herriger 2020).
Normative Rahmung: Menschenbild und Wertebasis
Empowerment ist ein „werthaltiges Konzept“ – es ist eingespannt in einen Rahmen von handlungsleitenden normativen Überzeugungen (ich habe diesen Werterahmen in verschiedenen Veröffentlichungen als „die Philosophie der Menschenstärken“ – „the strengths model“ beschrieben). Die Debatte zusammenfassend können wir hier folgende Grundüberzeugungen unterscheiden, die das Empowerment–Konzept, sein Menschenbild und sein methodisches Handeln anleiten:
(1) Ressourcenfokus: Der Ausgangspunkt des Empowerment–Konzeptes ist eine deutliche Kritik an dem tradierten Klientenbild, welches die Dienste und Einrichtungen der psychosozialen Hilfe anleitet. Dieses Klientenbild ist vielfach bis heute von einem Defizit–Blick auf den Menschen geprägt. Dies bedeutet: Die Menschen, die psychosoziale Dienstleistungen nachfragen, ihre Lebenserfahrungen und biografischen Geschichten werden nur allzu oft allein in Kategorien von Defizit, Mangel und Ungenügen wahrgenommen. Die Folge dieses Defizit–Blicks aber ist, dass die vorhandenen Lebensfähigkeiten der Menschen, denen wir in der psychosozialen Arbeit begegnen, ihre produktiven Ressourcen von Lebensbewältigung aus dem Blick geraten. Das Empowerment-Konzept nun bricht mit diesem Blick auf die Schwächen und Abhängigkeiten – es vertraut auf die Talente, die Fähigkeiten und die Stärken seiner Klienten. Leitfaden ist ihm die Bekräftigung jener Ressourcen, die es Menschen möglich machen, ihr Leben auch in kritischen Lebenslagen und in biographischen Belastungen erfolgreich zu meistern.
(2) Autonome Lebensgestaltung und Agency: Empowerment formuliert ein optimistisches Menschenbild. Allen Empowerment–Gedanken gemeinsam ist die Konstruktion einer Subjektivität, die die Kraft findet, für sich und für andere „ein besseres Leben“ zu erstreiten. Der Empowerment–Diskurs greift mit diesem Reden von einem besseren Leben Vorstellungsbilder und Argumentationsmuster auf, die in der aktuellen Debatte mit dem Begriff „agency“ verknüpft sind. Agency kann hier verstanden werden als die subjektive Erfahrung von „Handlungsmächtigkeit“, welche die Akteure befähigt, mit sozialen Herausforderungen, Konflikten, belastenden Lebenslagen gelingend umzugehen und ihre personale Agenda zu verwirklichen (Bethmann u.a. 2012). Agency zeichnet die Menschen also als handlungsfähige und gestaltende Akteure, die auch in Strukturen sozialer Ungleichheit und Machtbindung in der Lage sind, sich eigensinnig mit machtbestimmten Zwängen auseinanderzusetzen, eigene Vorstellungen über ihre Lebensbedingungen, Bedürfnisse und Interessen zu entwickeln und Möglichkeitsräume für eine autonome Lebensgestaltung zu öffnen.
(3) Das Eintreten für Selbstbestimmung und soziale Gerechtigkeit: Ein letzter Grundwert thematisiert die politischen Horizonte des Empowerment-Konzeptes: Menschen haben ein Recht auf Eigen-Sinn, Differenz und Diversität. Sie haben das Recht, diese Eigen-Sinnigkeit (dort, wo sie die Freiheit der anderen nicht gefährdet und verletzt) auch gegen den Mainstream gesellschaftlicher Normalitätsstandards zu behaupten und zu leben. E. ist in diesem Sinne getragen vom Glauben an das unveräußerliche Recht der Adressaten auf Selbstbestimmung und Autonomie („ein streitbares advokatorisches Engagement“). Dieses Konzept ist zugleich einem sozialaufklärerischen Programm verpflichtet. Ziel ist es, Menschen ein kritisches Bewusstsein für die Webmuster der sozial ungleichen Verteilung von Lebensgütern und gesellschaftlichen Chancen zu vermitteln, ihr analytisches Wissen um die Veränderbarkeit dieser übermächtig erscheinenden Strukturmuster zu festigen und sowohl im mikrosozialen Kosmos ihrer alltäglichen Lebenswirklichkeit als auch im makrosozialen Kosmos der politischen Selbstvertretung zu sozialer Aktion anzustiften.
„Sharing Power“: Der sensible Umgang mit der Expertenmacht
Eine psychosoziale Praxis, die diesen Grundüberzeugungen folgt, nimmt Abschied von der Expertenmacht. Denn: Vertrauen in die Selbstgestaltungskräfte der Menschen und ihre Lebenssouveränität bedeutet immer auch einen Verzicht auf vorschnelle Expertenurteile über die Standards des ‚richtigen Lebens‘, bedeutet eine sensible Eingrenzung der beratenden und therapeutischen Macht. Gefordert ist hier eine signifikante Veränderung der Machtbalance in der helfenden Beziehung („sharing power“). An die Stelle des sicheren Expertenurteils (d.h. der professionellen Unterstellung, „sicher zu wissen, wessen der andere bedarf“) tritt mehr und mehr das offene und machtgleiche Aushandeln von Lebensperspektiven. Obwohl Muster struktureller Macht in die institutionelle Arbeitsbeziehung unlösbar eingelassen sind - Ziel einer neuen Professionalität ist die Konstruktion einer (weitgehend) symmetrischen Arbeitsbeziehung („Kooperation auf Augenhöhe“), die auf die Attribute einer bevormundenden Fürsorglichkeit verzichtet und sich auf einen Beziehungsmodus des partnerschaftlichen Aushandelns einlässt.
Methodenkoffer - die Ebene individueller Ressourcenstärkung: Im Fokus der methodischen Aufmerksamkeit steht hier – auf der Ebene der sozialen Einzelfallhilfe – die Ressourcenförderung. Die pädagogische Begleitung zielt auf eine Erweiterung der Ressourcenhaushalte der Adressaten. Zum Einsatz kommen hier verschiedene Methoden einer ressourcenstärkenden Sozialen Arbeit:
Motivierende Gesprächsführung: eine Form der Gesprächsführung, die gerade bei entmutigten Klientinnen und Klienten einen „Motivationsfunken“ zur Veränderung einer bestehenden belastenden Lebenssituation zünden soll (Miller/Rollnick 2015).
Ressourcendiagnostik: die präzise Diagnose der verfügbaren und förderbaren (personalen und sozialen) Ressourcen der Ratsuchenden (Herriger 2020).
Ressourcenorientierte Beratung und stärkenorientiertes Case Management: die Erweiterung der Ressourcenkompetenz der Betroffenen und die systematische Vernetzung der Unterstützungsressourcen unterschiedlicher Träger durch Methoden des Unterstützungsmanagements (Lenz 2011; Ehlers/Müller/Schuster 2017).
Biografiearbeit: der biografische Dialog, dessen Ziel es ist, lebensgeschichtlich verschüttete Bewältigungsressourcen der Klienten zu entdecken und in der Jetzt-Zeit erneut zu aktivieren (Herriger 2020; Hölzle/Jansen 2011).
Methodenkoffer - die Ebene kollektiver Selbstbemächtigung: Auf der Ebene von Sozialraum und politischer Öffentlichkeit zielt Empowerment auf die Mobilisierung von kollektiven Ressourcen der Umweltgestaltung. E. meint hier: die Menschen ‚vor Ort‘ in ihrer je konkreten sozialräumlichen Lebenswirklichkeit ermutigen und befähigen, ihre Stimme zu erheben, ihre (raum- und alltagsbezogenen) Bedürfnisse zu artikulieren und die kollektiven Stärken zur Gestaltung lebenswerter Lebensverhältnisse zu bündeln. Das methodische Handwerk zielt hier auf den Aufbau und die stärkende Begleitung von Unterstützungsnetzwerken, in denen Menschen mit gleichartigen Betroffenheiten ein solidarisches zivilgesellschaftliches Engagement ausüben und Aktivposten einer strittigen Öffentlichkeit werden (Netzwerkarbeit mit inszenierten Gemeinschaften; Förderung von Selbsthilfe und bürgerschaftlicher Selbstorganisation; parteiliche Kooperation mit Sozialen Bewegungen; Herrmann 2019).
Evaluation
Empowerment–geleitete Prozesse der Förderung von Handlungsmächtigkeit hinterlassen psychische und politische Spuren: Die empirischen Befunde der Evaluationsforschung dokumentieren eindrücklich die stärkend-produktiven Effekte von ressourcenfördernden Arbeitsansätzen. E. bestärkt zum einen das Selbstbewusstsein und die soziale Identität der Klienten. Dort, wo die Adressaten die Erfahrung von Selbstwirksamkeit, Autonomie und Gestaltungskraft machen können, erweitern sich ihre psychischen Kräfte – sie stärken ihre personalen Ressourcen, sie schöpfen Selbstwert und gewinnen ein neues Vertrauen in die eigenen Bewältigungsfähigkeiten. Empowerment bestärkt die Menschen zum anderen aber auch in ihrer Rolle als politische Bürger – es stärkt die Teilhabe der Bürger an oftmals strittigen Prozessen der politischen Willensbildung, es unterstützt ihr solidarisches Eintreten für „common goods“ und vermehrt auf diese Weise ihr produktives Kapital an zivilgesellschaftlicher Kompetenz.
Literatur
Adams, R. (2008): Empowerment, participation and social work. 4. Aufl., Basingstoke;
Bethmann, S. u.a. (Hrsg.) (2012): Agency. Qualitative Rekonstruktionen und gesellschaftstheoretische Bezüge von Handlungsmächtigkeit. Weinheim;
Ehlers, C./Müller, M./Schuster, F. (2017): Stärkenorientiertes Case Management. Opladen/Berlin/Toronto;
Herriger, N. (2014): Empowerment-Landkarte. Diskurse, normative Rahmung, Kritik, in: Aus Politik und Zeitgeschichte APuZ, Heft 13-14/2014, S. 39-46;
Herriger, N. (2020): Empowerment in der Sozialen Arbeit. Eine Einführung, 6. Aufl., Stuttgart;
Herriger, N. (2019): Internet-Portal www.empowerment.de;
Herrmann, H. (2019): Soziale Arbeit im Sozialraum. Stadtsoziologische Zugänge. Stuttgart;
Hölzle, C./Jansen, I. (Hrsg.) (2011): Ressourcenorientierte Biografiearbeit. Grundlagen – Zielgruppen - Kreative Methoden. 2. Aufl., Wiesbaden;
Lenz, A. (Hrsg.) (2011): Empowerment. Handbuch für die ressourcenorientierte Praxis. Tübingen;
Miller, W.R./Rollnick, S. (2015): Motivierende Gesprächsführung. Motivational Interviewing. 3. Aufl., Freiburg i.B.